Holocaust-Überlebende und Enkelin eines SS-Lagerkommandanten geben gemeinsam Gastunterricht

Hintergrund – 27. Februar 2020 – Autorin: Lynn Stroo – Übersetzung: Bernd Hermanns

Es ist keine natürliche Freundschaft, die einer Holocaust-Überlebenden und einer Enkelin eines Lagerkommandanten. Aber Eva Weyl (84) und Anke Winter (44) beweisen, dass es möglich ist. Gemeinsam sprechen sie an Schulen in Deutschland mit einer klaren Botschaft: „Sie haben die Verantwortung, die Zukunft besser zu machen.“

Es ist ein regnerischer Februarmorgen in Hünxe, einer kleinen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen. In der Gesamtschule ist die Aula mit fast dreihundert Plätzen besetzt. Eine Liste der Daten aus dem Zweiten Weltkrieg ist auf einer Powerpoint-Präsentation zu sehen. Doch heute wird hier keine gewöhnliche Geschichtsstunde gegeben. Zum ersten Mal erzählt eine Zeitzeugin, die es selbst erlebt hat, von der Verfolgung der Juden. Als der Gong ertönt, betreten Schüler im Alter von 14 bis 19 Jahren den Raum mit viel Lärm. Eva Weyl fängt an zu reden und es ist plötzlich still.

Als junges Mädchen war Weyl, ein Kind jüdischer Eltern, das kurz vor dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland in die Niederlande geflohen war, fast dreieinhalb Jahre im Lager Westerbork in Drenthe inhaftiert. Westerbork war als „Veranda der Hölle“ bekannt: Es war ein Durchgangslager zu Konzentrationslagern wie Auschwitz und Sobibor in Polen. Zwischen 1942 und 1945 transportierten die Nazis 107.000 Juden in den Osten. Nur 5000 von ihnen überlebten. Weyl und ihre Eltern blieben in Westerbork und erlebten die Befreiung wie ein Wunder.

Mission

„Sie sind nicht verantwortlich für diese Geschichte.“ Weyl beginnt mit einer nachdrücklichen Botschaft an die deutschen Schüler. „Aber Sie sind verantwortlich für das, was jetzt damit passiert. Wer die Geschichte nicht kennt, kann nichts damit anfangen. Sie haben die Pflicht, darüber zu sprechen und zu sagen: Nie wieder Krieg! Ich werde nicht mehr da sein.“ Es ist Weyls Mission, über den Holocaust zu erzählen. Sie lebt in Amsterdam, fährt aber fast jeden Monat nach Deutschland, um Vorlesungen an Schulen zu halten. Sie macht das seit neun Jahren und „fährt alles selbst“, sagt sie stolz.

Im Lager wurde eine Scheinwelt geschaffen, um die Gefangenen ruhig zu halten. ‚

In der Aula in Hünxe hören die Schüler aufmerksam zu, als Weyl über das Leben in Westerbork erzählt. „Es fällt mir nicht schwer, darüber zu sprechen. Als sechsjähriges Mädchen wurde ich ignoriert. Als wir 1942 im Lager ankamen, nahmen die Nazis alle Wertsachen mit. Meine Mutter war schlau und versteckte unsere Diamanten in den Stoffknöpfen meines Mantels. Ich bin mit einer Puppe in meinen Armen hineingegangen.“ Weyl hebt die Hand und zeigt auf einen glitzernden Ring. „Das sind die Diamanten. Ich erhielt den Ring von meiner Mutter an meinem sechzigsten Geburtstag. Erst dann habe ich die Geschichte dahinter gehört.“

Schreibtischmörder

Weyls Vater hat im Lager gute Arbeit geleistet, deshalb wurden sie nicht transportiert. „Das war viel Glück“, sagt Weyl, „denn in Westerbork gab es im Gegensatz zu anderen Nazi-Lagern viel zu essen und niemand wurde getötet. Ich bin normal zur Schule gegangen. Die schlimmste Strafe, die man bekommen konnte, war der Transport, aber niemand wusste genau, wohin er gehen sollte.“ Im Lager wurde eine falsche Welt geschaffen, um die Gefangenen ruhig zu halten, erklärt Weyl. „Wir sind sogar zu Kabarettshows gegangen. Der Lagerkommandant saß auch mit im Raum. Gleichzeitig verließen jede Woche Züge voller Menschen das Lager. Eines Tages war meine Freundin Mirjam nicht mehr im Unterricht. Ich habe es nicht verstanden, aber keine Angst gefühlt.“

Dann übergibt sie Anke Winter, der Enkelin von SS-Offizier Albert Konrad Gemmeker das Wort. Er war der Lagerkommandant von Westerbork. Anke Winter hat sichtlich mehr Schwierigkeiten, über diese Geschichte zu sprechen. Sie seufzt. „Mein Großvater war ein Schreibtischmörder. Hinter seinem Schreibtisch ermöglichte er den Holocaust, indem er die Transportlisten aufstellte, ohne sich schuldig zu fühlen. Er hat immer behauptet, dass er nicht wusste, was mit den Leuten passiert ist, die er in den Zug gesetzt hat. Aber das glaube ich nicht.“

Familiengeschichte

Seit Sommer 2019 spricht Winter mit Eva Weyl an deutschen Schulen. Als Grundschullehrer kein Neuland für die Deutsche. „Ich war mir meiner Familiengeschichte erst bewusst, seit ich offen darüber gesprochen habe. Ich habe es seit meinem 14. Lebensjahr gewusst, aber ich habe es immer für mich behalten. Ich erinnere mich an meinen Großvater in seiner kleinen Wohnung in Düsseldorf. Kein herzlicher Mann, der immer Angst hat, verfolgt zu werden“, erzählt Winter den Schülern. „Jedes Mal, wenn ich Eva die Geschichte über Westerbork erzählen höre, fühle ich sie emotional. Mein Großvater lebte luxuriös in einer Villa mit Blick auf das Lager. Unglaublich, sich das vorzustellen.“

„Die SS-Vergangenheit meines Großvaters wurde nach dem Krieg nicht erwähnt.“

Die Geschichte der Familie Winters schlägt immer noch zu. „Nach dem Krieg wurde die SS-Vergangenheit meines Großvaters nicht erwähnt. Es wird viel zurückgehalten und unverarbeitet belassen. Meine Mutter weiß viel, spricht aber nie darüber, weil sie Angst hat, für seine Handlungen verantwortlich gemacht zu werden.“ Winter hat sich bewusst dafür entschieden, diese Tabus zu durchbrechen. „Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, aber ich bin nicht verantwortlich für seine Handlungen. Ich möchte auch nicht nur in Schulden denken. Es geht mehr darum: Was können wir jetzt besser machen? Wir haben diese Verantwortung.“ Winter spricht am Tag nach dem Anschlag in Hanau mit den Schülern: „Was in unserem Land passiert, zeigt, dass der Hass nicht verschwunden ist.“

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann befreiend wirken, wenn Winter ihr Raum geben will. „Fragen Sie Ihre Familienmitglieder, wie es früher war, als sie noch dort waren. Lassen Sie ihr Herz sprechen, äußern Sie Ihre Meinung. Seien Sie neugierig auf die andere Person.“

Lauter Applaus bricht die Stille der letzten zwei Stunden. Es ist Zeit für Fragen. Finger schießen in die Luft. „Haben Sie jemals Hitler gesehen?“ „Was waren Ihre Träume als kleines Mädchen in Westerbork?“ „Haben Sie Freunde von damals?“ „Haben Sie Albträume über den Krieg?“ Die meisten Fragen richten sich an Weyl. „Sind Sie besorgt über die AfD?“ Bei dieser Frage ist Lärm im Raum. Weyl sagt, sie rede nicht gern über deutsche Politik. „Sie haben überall rechte Trends, auch in den Niederlanden. Aber überlegen Sie genau, wie Sie wählen wollen. Die Tatsache, dass Parteien demokratisch gewählt werden, bedeutet nicht, dass sie auch demokratisch sind.“

Der Geschichtslehrer Frank Merten, der den Besuch der beiden Gäste ausgiebig mit den Schülern vorbereitet hat, stimmt zu, dass der Aufstieg der rechtsnationalistischen AfD seine Schüler betrifft. „Das diskutiere ich auch im Unterricht. Als Geschichtslehrer kann ich das wohl nicht ignorieren, vor allem, weil Parallelen zwischen den 1930er Jahren und heute gezogen werden. Ich erkläre dann, dass die Umstände in Deutschland heute ganz anders sind als bei der Machtübernahme Hitlers.“

Tränen

Der Gong ertönt erneut. Es gibt mehr Fragen als Zeit. Ein paar Dutzend Schüler bleiben, um mit Weyl und Winter zu sprechen. Einer von ihnen ist Dominik (15): „Ich finde es so gut, dass sie das erzählt haben. Ich habe auch Dinge erkannt. Meine Großmutter hat den Krieg überlebt, spricht aber auch nicht gern darüber“, sagt er. Gesa (15) hat Tränen in den Augen, sagt sie. „Es ist so anders als das Lesen von Geschichte in Büchern. Jetzt wird es lebendig und ich kann es mir viel besser vorstellen.“

Die positiven Reaktionen der Schüler sind laut Weyl und Winter keine Ausnahme. Weyl: „So läuft es bei 90 Prozent der Vorträge: Viele junge Leute mit viel Engagement. Sie sind jedes Mal Geschenke.“ Gleiches gilt für Winter: „Ich bin immer erleichtert, wenn es vorbei ist und die Geschichte erzählt wurde. Aber die emotionalen Reaktionen der Schüler sind der Grund, es beim nächsten Mal wieder zu tun.“

 

Die Gesamtschule Hünxe hat Eva Weyl und Anke Winter auch für das nächste Schuljahr eingeladen. Wir hoffen beide Damen im Januar 2021 wieder bei uns begrüßen zu dürfen!

F. Merten im Februar 2020